Verfasst von: Dr. Anke Seifert
Lesezeit: 7 Minuten
Veröffentlicht am: 13.10.2022
Verfasst von: Dr. Anke Seifert
Lesezeit: 7 Minuten
Veröffentlicht am: 13.10.2022
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Palliativmedizin folgendermaßen: Palliativmedizin ist die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patient:innen, mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung der Schmerzen, anderer Krankheitsbeschwerden, psychologischer, sozialer und spiritueller Probleme höchste Priorität besitzt.
Der Fokus der Palliativmedizin liegt darin, Patient:innen mit unheilbaren Krankheiten bis zu ihrem Lebensende eine möglichst hohe Lebensqualität zu ermöglichen.
Im Vordergrund steht die Symptomkontrolle, die Unterstützung bei der Bewältigung belastender Beschwerden und die Begleitung der Patient:innen und deren Angehörigen. Wichtig ist, dass die Palliativmedizin keine „Sterbemedizin“ ist, sondern auch in früheren Stadien von unheilbaren Erkrankungen dabei unterstützt, Patient:innen ein beschwerdearmes, erträgliches Leben zu ermöglichen. Die Palliativmedizin folgt dem Grundsatz von Cicely Saunders, nicht dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.
Daher steht Palliativmedizin nicht nur Patient:innen mit Krebserkrankungen, sondern ausdrücklich auch allen Patient:innen mit einer schweren, fortschreitenden Erkrankung und einer starken Symptomlast, wie z.B. Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose, zu.
Laut Hospiz- und Palliativ-Erhebung (HOPE) leiden viele Palliativpatient:innen neben weiteren Problemen unter Schwäche, Appetitmangel, Müdigkeit, Schmerzen, Verstopfung, Luftnot, Anspannung, Angst, Depressivität, Übelkeit und Erbrechen. Viele dieser Symptome stellen Ansatzpunkte für Medizinalcannabis dar. Durch ihre potenziell schmerzlindernden, übelkeitshemmenden, appetitanregenden, entkrampfenden, schlaffördernden, stimmungsaufhellenden und angstlösenden Eigenschaften können Cannabis oder Cannabinoide für Palliativpatient:innen eine sinnvolle Option oder Ergänzung zur Symptomkontrolle sein. Auch wenn die wissenschaftliche Evidenz- bzw. Studienlage in Bezug auf Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabis besser sein könnte und eine abschließende Beurteilung des therapeutischen Nutzens aktuell nicht möglich ist, berichten Patient:innen und Ärzt:innen immer häufiger von einer Symptomlinderung und einer besseren Lebensqualität durch eine Therapie mit Medizinalcannabis.
Die zwischen 2017 und 2022 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchgeführte Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln zeigte bei ca. dreiviertel der Patient:innen unabhängig vom verordneten Präparat eine symptomübergreifende Verbesserung der Beschwerden und eine Zunahme der Lebensqualität. Nebenwirkungen kamen zwar häufig vor, fielen aber überwiegend leicht bis moderat aus und führten nur in ca. 8% der knapp 17.000 vollständigen Datensätzen zu einem Therapieabbruch.
Auch in der pädiatrischen Therapie können Cannabinoide bei schweren Erkrankungen bzw. schwerstkranken Kindern zum Einsatz kommen.
Weiterhin kann der Einsatz von Cannabinoiden bzw. cannabisbasierten Arzneimitteln zu einer Reduzierung von Opioiden und anderen Begleitmedikamenten und damit eventuell auch zu einer Reduktion ihrer Nebenwirkungen führen. Generell ist der Einsatz von Medizinalcannabis als individuell zu betrachten und sollte in enger Abstimmung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen erfolgen.
Für den medizinischen Einsatz von Cannabis und Cannabinoiden sind verschiedene Darreichungsformen erhältlich bzw. verschreibungsfähig. Es können entweder Teile der Cannabispflanze (getrocknete Blüten), unterschiedliche Pflanzenextrakte oder synthetisch bzw. halbsynthetisch hergestellte Cannabinoide verordnet werden.
Als zugelassene Fertigarzneimittel sind Nabiximols zur Behandlung therapieresistenter mittelschwerer bis schwerer Spastik bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) sowie Nabilon bei nicht auf herkömmliche Therapeutika ansprechender Übelkeit und Erbrechen im Rahmen einer Chemotherapie verfügbar.
Patient:innen haben einen Anspruch auf cannabisbasierte Medikamente bei Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung, sofern „eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder … nicht zur Anwendung kommen kann“ und wenn „Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht“.
In der Palliativversorgung, in der die Lebensqualität im Vordergrund steht, sollte die den Patient:innen angenehmere Darreichungsform bevorzugt werden. Generell sollten Cannabinoide nicht allein, sondern als Teil eines multimodalen Therapiekonzeptes zum Einsatz kommen.
Medizinalcannabis ist kein Wundermittel, das die palliative Behandlung komplett verändern wird. Dennoch stellt es durch seine symptomübergreifende Wirkungsweise, leichte-moderate Nebenwirkungen und eine gute Kombinationsmöglichkeit mit weiteren Medikamenten eine zusätzliche Behandlungsoption für Palliativpatient:innen dar, die nicht außer Acht gelassen werden sollte.
Ein Therapieversuch mit Cannabinoiden kann sinnvoll sein, wenn bei Patient:innen mehrere Symptome wie Schmerzen, Appetitmangel, Übelkeit und Schlafstörungen gemeinsam vorliegen und sich mit den üblichen Standardmaßnahmen nicht ausreichend lindern lassen. So könnten verschiedene Symptome gleichzeitig positiv beeinflusst werden und eine Alternative zu einem Ansatz darstellen, bei dem für eine komplexe Symptombehandlung mehrere Medikamente gegeben werden.